Ein Thema aus meiner Coaching-Praxis: Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme als Resilienz-Ressource für HSP
Hochsensibilität, Resilienz und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme
In meiner Coaching- und Beratungstätigkeit arbeite ich häufig mit Menschen, die aufgrund ihrer Sensibilität von ihrer Umwelt als leistungsschwach verurteilt werden, und die auch selbst an ihren Fähigkeiten zweifeln. Dabei haben Hochsensible Zugriff auf wichtige Resilienz-Ressourcen, die es ermöglichen, Herausforderungen gut zu bewältigen.
Eine dieser Ressourcen ist die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Die Forschung zeigt, dass Erwachsene mit dieser Fähigkeit resilienter sind. Denn sie können aus der eigenen Sichtweise heraustreten – sich sozusagen von außen betrachten – ebenso wie sich in andere Personen hineinversetzen und Werte und Konventionen ihrer Umgebung vergleichsweise schnell erkennen.
Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist damit eine Voraussetzung für empathisches und taktvolles Verhalten. Wer hier gut aufgestellt ist, kann harmonische und stabile Beziehungen führen, die besonders in unruhigen Zeiten eine Stütze sind. Zum anderen macht es die Perspektivenübernahme möglich, in kritischen Situationen „situationsgerecht“ zu reagieren, weil man z.B. erkennt, worum es dem Anderen geht und worauf es gerade ankommt. So lassen sich (sozialer) Stress umgehen und Konflikte entschärfen – all das unterstützt Resilienz. Wer dagegen Personen und Situationen nicht gut einschätzen kann, eckt oftmals ungewollt an und erfährt wiederholt, dass die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden, dass das Umfeld anders reagiert, als angenommen, was Frust erzeugt und belastet. Hochsensiblen gelingt die Einnahme mehrerer Perspektiven aufgrund ihrer komplexen Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Regel sehr gut. Sie nehmen auch subtile und verdeckte Signale wahr und haben damit gute Chancen, passend darauf zu reagieren.
Regulierte Perspektivenübernahme als Schlüssel
Eine Vielzahl an Erwartungen wahrzunehmen, bringt manchmal aber auch Stress mit sich, vor allem wenn man den Eindruck hat, jede davon erfüllen zu müssen. Umfeld-Anforderungen grundsätzlich gut lesen zu können, ist trotzdem ein Vorteil für Resilienz – sich dabei gut zu regulieren, ist der Schlüssel, speziell für HSP. Beim Wahrnehmen von Sub-Tönen und Stimmungen ist etwa die Kompetenz gefragt, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Eine gelungene Regulation wäre es z.B., wenn man die Sichtweisen anderer erkennt – was die Eltern sich wünschen, was der Vorgesetzte erwartet oder was gesellschaftliche Gruppen antreibt – ohne sich davon vereinnahmen zu lassen.
Wie gelingt die Regulation? – Ein häufiges Thema in Beratung und Coaching
Wie die Regulation der Perspektivenübernahme gelingt, ist deshalb häufig Thema in Beratung und Coaching. Es gibt hierfür einige Techniken zur Unterstützung, die man im Alltag nutzen kann. Wenn es darum geht, sich in fordernden Situationen zu zentrieren, um aus der „inneren Mitte“ heraus zu handeln und nicht zwischen fremden Erwartungen hin- und herzupendeln, ist es z.B. nützlich, die Körperwahrnehmung einzubeziehen. Als hilfreich wird oft die bewusste Verbindung mit der Atmung oder mit dem (erdenden) Stand der Füße erlebt, um den Kontakt zu sich herzustellen.
Eine Coaching-Übung, die sich auch zum Selbst-Ausprobieren eignet, ist das „Erwartungskarussell“. Die Übung ist sinnvoll, wenn verschiedene (vermutete) Erwartungen an die eigene Person gestellt werden und man nicht weiß, wie man sich verhalten soll, z.B. bei Familien- oder Team-Konflikten. Im ersten Schritt werden die beteiligten Personen und inneren Auftraggeber identifiziert; symbolisiert durch Gegenstände ordnet man diese vor sich an. Danach wird herausgearbeitet, welche Erwartung der jeweilige Auftraggeber hat. Dazu fragt man sich z.B. „Was will xy, dass ich tue?“ oder „Was erwarte ich selbst von mir?“. Im letzten Schritt wird priorisiert und entschieden: „Welche Aufträge sind wichtig?“; „Welche davon kann ich annehmen oder ablehnen?; und „Wo müssen Erwartungen ggf. überprüft oder verändert werden?“. So verschafft man sich einen Überblick über komplexe Situationen und kann souveräne Handlungsschritte daraus ableiten.
Dr. Martha Höfler,
Bonn
https://www.resilienz-expertise.de
Weiterführende Quellen:
Höfler, M. (2016). Die Förderung der Resilienz Erwachsener. Systematische Identifikation von psychischen Schutzfaktoren und pädagogische Handlungsansätze für ihre Entwicklung. dbt.
Gough, H. G. (1960). Theory and measurement of socialization. Journal of Consulting, Psychology, 24 (1), S. 23-30.